Rücksichtnahmepflicht des Fußgängers beim Überqueren eines Radweges

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Kollision von Radfahrer und Fußgänger: Nachfolgend ein Beitrag vom 11.7.2018 von Burmann, jurisPR-VerkR 14/2018 Anm. 2

Leitsatz

Führt ein farblich markierter Radweg um eine Lichtzeichenanlage herum, müssen Fußgänger beim Überqueren des Radwegs auf Radfahrer Rücksicht nehmen. Wird der Radweg in einer Rechtskurve an der Lichtzeichenanlage vorbeigeführt, liegt kein Abbiegen i.S.v. § 9 StVO vor.

A. Problemstellung

Der Radfahrverkehr wächst und damit steigt auch die Zahl von Radfahrunfällen. Gleichwohl finden sich relativ wenig veröffentlichte Entscheidungen. Nicht nur deshalb ist die hier vorzustellende Entscheidung des OLG Hamm beachtenswert.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Zwischen der Klägerin und dem Beklagten ereignete sich im Kreuzungsbereich L-Ring/C-Straße ein Verkehrsunfall, bei dem der Beklagte als Radfahrer mit der Klägerin als Fußgängerin zusammenstieß und die Klägerin infolgedessen stürzte und sich Verletzungen zuzog. Der Fußgängerverkehr ist im Kreuzungsbereich durch Lichtzeichenanlagen geregelt. Sowohl neben der C-Straße als auch neben dem L-Ring verläuft ein teilweise durch Pflasterung farblich abgehobener Radweg. Am Unfalltag war es regnerisch. Der genaue Unfallhergang ist zwischen den Parteien streitig.
Die Klägerin behauptete, sie habe von der Innenstadt kommend bei Grünlicht den Kreuzungsbereich überquert und sei sodann links auf den Bahnhofsvorplatz in Richtung des Parkplatzgeländes abgebogen, um zu ihrem dort geparkten Fahrzeug zu gelangen. Sie habe bereits einige Meter auf dem Bahnhofsvorplatz zurückgelegt, als sich plötzlich der Beklagte verbotswidrig nicht auf dem Radweg fahrend und aus Richtung der Bahnhofsunterführung kommend genähert habe. Dabei sei er mit nicht an die ungünstigen Witterungsverhältnisse und die starke Frequentierung des Bahnhofsvorplatzes angepasster und demnach zu hoher Geschwindigkeit gefahren. Andernfalls wäre es ihm möglich gewesen, noch rechtzeitig anzuhalten oder auszuweichen.
Der Beklagte behauptete, die Klägerin sei vom Bahnhofsvorplatz kommend in Richtung Innenstadt auf die Ampelanlage im Kreuzungsbereich zugegangen. Dabei habe sie weder auf den Radweg noch auf den diesen befahrenden Radfahrer geachtet und sei ihm deshalb in das Fahrrad hineingelaufen. Obwohl er vorschriftsmäßig den Radweg benutzt habe und wegen dessen rechtskurvigen Verlaufes zudem relativ langsam gefahren sei, habe er den Zusammenstoß auf dem Radweg nicht mehr verhindern können. Selbst nach dem von der Klägerin behaupteten Geschehensablauf hätte diese aber den Radweg queren, mithin auf Radfahrer achten und damit auch den dann von rechts kommenden Beklagten wahrnehmen müssen.
Das Landgericht hatte der Klage nach Beweisaufnahme stattgegeben. Der Beklagte habe die Klägerin bei dem Zusammenstoß, infolgedessen die Klägerin stürzte, in rechtswidriger und schuldhafter Weise an ihrer Gesundheit geschädigt. Dabei könne dahinstehen, ob die Lichtzeichenanlage auch für den Radverkehr auf dem Radweg und damit für den Beklagten gegolten habe, da er jedenfalls gegen § 9 Abs. 3 Satz 3 StVO verstoßen habe. Der Beklagte habe der Klägerin wegen seines Abbiegevorgangs auch nach deren Fahrbahnüberquerung wegen der Verkehrsregelung vor Ort und wegen des weiterhin geltenden Grünlichts den Vorrang einräumen müssen. Jedenfalls hätte er seine Geschwindigkeit den Witterungsbedingungen dergestalt anpassen müssen, dass er jederzeit hätte anhalten können. Ein Mitverschulden der Klägerin sei dagegen nicht festzustellen. Der insoweit beweisbelastete Beklagte habe nicht dargelegt, dass die Klägerin es trotz ihres Vorranges entsprechend des allgemeinen Gebots zur gegenseitigen Rücksichtnahme im Straßenverkehr unterlassen habe, zumindest einen beiläufigen Kontrollblick in beide Richtungen zu werfen.
Das OLG Hamm hat auf die Berufung des Beklagten die Entscheidung des Landgerichts abgeändert und auf einen lediglich hälftigen Anspruch auf Schadensersatz- und Schmerzensgeldzahlung sowie Feststellung zukünftiger Ersatzpflicht gemäß §§ 823 Abs. 1, 249, 253 Abs. 2 BGB erkannt. Die Ansprüche der Klägerin seien wegen deren eigenen Mitverschuldens zu kürzen, welches das Oberlandesgericht mit mindestens 50% bemesse.
Die vom Landgericht durchgeführte Beweisaufnahme habe zunächst ergeben, dass die Klägerin aus der Innenstadt kommend bei für sie grün zeigender Lichtzeichenanlage die Fußgängerfurt überquert habe und in Richtung Bahnhofsvorplatz gegangen sei, während der Beklagte den Radweg befahren und sich der Unfall sodann auf dem Radweg ereignet habe. Die entsprechenden Feststellungen seien im Berufungsverfahren von keiner Partei mehr angegriffen worden.
Ausgehend von diesem Unfallhergang habe der Beklagte die Kollision mit der Klägerin schuldhaft herbeigeführt und diese damit in rechtswidriger Weise an der Gesundheit geschädigt. Das Landgericht habe zunächst zutreffend Bedenken hinsichtlich der Geltung der links des Radwegs befindlichen Lichtzeichenanlage für den nicht die Fahrbahn der C-Straße benutzenden Radverkehr geäußert.
Das OLG Hamm weist darauf hin, dass einerseits zu dem durch die Lichtzeichenanlage geschützten Bereich der gesamte Kreuzungsbereich, also nicht nur die eigentliche Fahrbahn, sondern auch parallel verlaufende Rand- und Parkstreifen sowie Geh- und Radwege gehören. Andererseits verletze ein Umfahren außerhalb des durch die Lichtzeichenanlage geschützten Bereichs § 37 StVO nicht. Ein Verstoß gegen den Benutzungszwang der Fahrbahn gemäß § 2 StVO sei ausgeschlossen, wenn zum Umfahren nur Fahrflächen genutzt werden (vgl. Hentschel in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 37 StVO Rn. 8 f.). Das OLG Hamm sieht aber einen Verstoß des Beklagten gegen § 3 Abs. 1 Satz 1 und 2 StVO und wegen § 25 StVO ein anspruchsminderndes Mitverschulden der Klägerin.

C. Kontext der Entscheidung

Wechsellichtzeichen gelten nur an der Straßenstelle, an der die Lichtzeichenanlage angebracht ist, nicht also auch außerhalb des geschützten Bereichs (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15.02.1993 – 5 Ss (OWi) 47/93 – (OWi) 31/93 I – NZV 1993, 243). Dabei reicht der Wirkungsbereich einer Lichtzeichenanlage weiter als die eigentliche Kreuzungsfläche, da er außer den Schnittflächen der Fahrbahnen noch weitere Straßenteile, wie die in ihm liegenden Fußgängerüberwege und parallel zur Fahrbahn verlaufenden Rad- und Fußwege sowie die Rand- und Parkstreifen, mit umfasst (vgl. Janker/Hühnermann in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl., § 37 StVO Rn. 3). Während das OLG Hamm in seiner Entscheidung vom 25.04.2002 (2 Ss OWi 222/02 – NZV 2002, 408) beim Umfahren einer rotlichtzeigenden Lichtzeichenanlage und anschließendem Rechtsabbiegen und Weiterfahrt in der Querstraße einen Rotlichtverstoß angenommen hat, ist das OLG Hamm in der hier zu besprechenden Entscheidung der Auffassung, dass ein Umfahren außerhalb des durch die Lichtzeichenanlage geschützten Bereichs § 37 StVO nicht verletzt. Konsequent verneint es auch einen Verstoß gegen § 2 Abs. 1 StVO (Fahrbahnbenutzungspflicht) wenn – wie hier – zum Umfahren nur Fahrflächen benutzt werden (vgl. Hentschel, a.a.O.).
Im Unterschied zum Landgericht kommt das OLG Hamm in der vorliegenden Entscheidung zu dem Ergebnis, dass der Beklagte mit seiner Fahrweise nicht unter den Anwendungsbereich des § 9 StVO fällt. „Abbiegen“ im Sinne der StVO erfasst alle Richtungsänderungen im fahrenden Längsverkehr, also jede Fahrtrichtungsänderung, die aus dem gleichgerichteten Verkehr herausführt. Das bedeutet, dass die Fahrbahn seitlich verlassen oder in einem Bogen der Gegenrichtung oder die andere Straßenseite angesteuert wird. Dagegen biegt nicht ab, wer dem natürlichen Straßenverlauf trotz Kurven oder einer abknickenden Vorfahrtsstraße folgt (vgl. König in: Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 9 StVO Rn. 16), ungeachtet der Tatsache, dass wegen Anlage 3 lfd. Nr. 2.1 StVO der Fahrtrichtungsanzeiger betätigt werden muss. Das OLG Hamm führt aus, dass die vorliegende Art der Verkehrsführung, bei der Radfahrer extra in einer Rechtskurve an der Lichtzeichenanlage und an der Kreuzung vorbeigeführt werden, letztlich nur dann Sinn ergebe, wenn weder die Ampelanlage für die Radfahrer gelte noch ein Abbiegen mit den Sorgfaltsanforderungen des § 9 StVO anzunehmen sei.
Das OLG Hamm weist darauf hin, dass der Fußgängerverkehr mit Erreichen des Gehweges die Fahrbahn vollständig überquert hat und nun gemäß § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO beim Überqueren des Radweges seinerseits auf die Radfahrer Rücksicht nehmen muss.
Dem ist zuzustimmen: Die Verhaltenspflichten für Fußgänger sind in § 25 StVO eingehend geregelt. Im Grundsatz gilt, dass sie sich von der Fahrbahn fernzuhalten haben. Nur wo dies unvermeidbar ist, dürfen sie die Fahrbahn betreten, müssen dann aber auf den Fahrverkehr achten (vgl. Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehr, 4. Aufl., § 14 Rn. 268).
Einen weiten Raum nehmen die Ausführungen des Oberlandesgerichts zu den Verhaltenspflichten gemäß § 3 StVO ein. Das Gericht weist zunächst auf § 3 Abs. 1 Satz 1 und 2 StVO hin: Nach dieser Norm darf ein Fahrzeug nur so schnell geführt werden, dass es ständig beherrscht wird. Dabei ist die Geschwindigkeit insbesondere an die Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnisse anzupassen. Grundsätzlich müsse ein Bevorrechtigter ohne das Hinzutreten weiterer Besonderheiten seine Geschwindigkeit nicht so wählen, dass er jederzeit bei plötzlichen Hindernissen zum Stehen kommen könne. Vielmehr gelte in der Regel das Sichtfahrgebot gemäß § 3 Abs. 1 Satz 3 und 4 StVO. Der Fahrverkehr muss seine Geschwindigkeit grundsätzlich auch nicht auf die Möglichkeit einrichten, dass ein Fußgänger vor ihm auf die Fahrbahn treten wird, dies selbst dann nicht, wenn von der Seite ein Fußweg einmündet. Die Vorrangregelung des § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO, der zufolge auch ein Radfahrer grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass Fußgänger beim Überqueren von Radwegen darauf Rücksicht nehmen (vgl. König, a.a.O., § 25 StVO Rn. 33), findet eine Einschränkung zunächst gegenüber den in § 3 Abs. 2a StVO genannten Personen, zudem über den Grundsatz des § 3 Abs. 1 Satz 2 und das allgemeine Gebot zur gegenseitigen Rücksichtnahme aus § 1 StVO. Danach muss die Geschwindigkeit bei besonderen Verhältnissen entsprechend an diese angepasst und es darf wegen des Rücksichtnahmegebotes auch nicht uneingeschränkt darauf vertraut werden, dass alle anderen Verkehrsteilnehmer die eigene grundsätzliche Bevorrechtigung beachten.
Im Rahmen der Haftungsabwägung weist das OLG Hamm darauf hin, dass bei unaufmerksam auf einen Radweg tretenden Fußgängern es unter Umständen sogar zu einer Alleinhaftung des Fußgängers kommen kann (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 16.09.1998 – 13 U 76/98). Im vorliegenden Fall war für das Oberlandesgericht einerseits entscheidend, dass sich der Unfall auf dem Radweg und damit auf einer gegenüber der zu Fuß gehenden Klägerin bevorrechtigten Fahrfläche ereignete und die Klägerin daher bei der Überquerung des Radweges eine (noch) größere Vorsicht hätte walten lassen und sich notfalls ganz langsam in diesen hätte „hineintasten“ müssen. Andererseits sei entscheidend, dass der Beklagte die Klägerin vor dem Zusammenstoß noch wahrnehmen und seine Bremsen betätigen konnte, ohne dass er jedoch dadurch sein Fahrrad vor ihr zum Stehen bringen konnte. Damit habe er seine Geschwindigkeit zumindest nicht an die an dieser Stelle besonderen Verkehrsverhältnisse, also den kurvigen Verlauf des Radweges und die in Bahnhofsnähe gelegene Lichtzeichenanlage für Fußgänger direkt nach dem Kurvenausgang angepasst. Das OLG Hamm verweist hier auch auf einen ähnlich gelagerten Fall des LG Heidelberg (Urt. v. 15.05.2002 – 7 O 19/02). Zur Haftungsabwägung auch instruktiv: BGH, Urt. v. 04.11.2008 – VI ZR 171/07 und nachgehend OLG Düsseldorf, Urt. v. 25.05.2009 – I-1 U 278/06 sowie KG, Urt. v. 15.01.2015 – 29 U 18/14 – NZV 2015, 187.

D. Auswirkungen für die Praxis

Unfälle zwischen Radfahrern und Fußgängern nehmen stetig zu, zweifelsohne eine Folge des seit Jahren deutlich zunehmenden Radfahrverkehrs. Dabei kann man auch immer häufiger Fahrradfahrer erleben, denen es zu müßig ist, vor der Rotlicht zeigenden Ampel anzuhalten, und die sie stattdessen außen herum umfahren. Dieses Außenherumfahren ist – wie die Entscheidung des OLG Hamm zeigt – nicht immer rechtswidrig. Welche Sorgfaltsanforderungen Fußgänger in Bezug auf Radwege und Radfahrer in Bezug auf Lichtzeichenanlagen zu erfüllen haben, führt das OLG Hamm anschaulich aus. Insgesamt eine lesenswerte Entscheidung.

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