Beschluss vom 01. April 2014
Die bis 2016 befristete Rechtsverordnung zur Erprobung von „Gigalinern“ ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden. Die Rechtsverordnung ist von den Ermächtigungsgrundlagen des Straßenverkehrsgesetzes gedeckt, konnte ohne Zustimmung des Bundesrates erlassen werden und genügt den Anforderungen des Zitiergebots und des Parlamentsvorbehalts.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Am 19. Dezember 2011 erließ das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – ohne Beteiligung des Bundesrates – die Verordnung über Ausnahmen von straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften für Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen mit Überlänge (Gigaliner). Sie bestimmt, dass unter bestimmten Voraussetzungen Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen im Güterverkehr länger sein dürfen und das Mitführen von Anhängern weniger eingeschränkt ist als in den sonst geltenden straßenverkehrsrechtlichen Regelungen vorgesehen. 214 Abgeordnete der Bundestagsfraktionen von SPD und Bündnis 90 / Die Grünen (2 BvF 1/12) sowie die Landesregierungen von Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein (2 BvF 3/12) haben die Verordnung im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle zur Prüfung gestellt.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Die im Wesentlichen zulässigen Normenkontrollanträge sind unbegründet.
1. Die Vorschriften der Verordnung finden in § 6 Abs. 1 in Verbindung mit § 6 Abs. 3 Straßenverkehrsgesetz (StVG) ausreichende Ermächtigungsgrundlagen. Dies gilt auch für § 12 der Verordnung, der bestimmt, dass überlange Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen am Straßenverkehr nur teilnehmen dürfen, wenn mit ihnen an einer wissenschaftlichen Untersuchung durch die Bundesanstalt für Straßenwesen teilgenommen wird. Diese Vorschrift kann auf § 6 Abs. 1 Nr. 3 einleitender Halbsatz in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Nr. 5a StVG gestützt werden. Wesentliches Ziel der Rechtsverordnung ist es, zu untersuchen, ob durch den Einsatz von Fahrzeugen und Fahrzeugkombinationen mit Überlänge der Verkehrsträger Straße effizienter genutzt und ob damit ein Beitrag zur Verminderung von Emissionen geleistet werden kann. Die Teilnahmepflicht trägt zwar zur Erhaltung der Sicherheit und Ordnung auf den öffentlichen Straßen und zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen nur mittelbar bei, indem sie die Gewinnung von Erkenntnissen für die Bewertung des Feldversuchs ermöglicht. Dies reicht jedoch aus.
2. Die Verordnung ist nicht deshalb verfassungswidrig, weil sie ohne Zustimmung des Bundesrates erlassen wurde.
a) Zwar bedürfen Rechtsverordnungen zum Straßenverkehrsgesetz grundsätzlich der Zustimmung des Bundesrates. Dieses Zustimmungserfordernis steht jedoch nach Art. 80 Abs. 2 GG unter dem Vorbehalt anderweitiger bundesgesetzlicher Regelung, kann also durch Bundesgesetz ausgeschlossen werden. Eine solche anderweitige Regelung ist § 6 Abs. 3, 2. Variante StVG: Rechtsverordnungen über allgemeine Ausnahmen von den auf dem Straßenverkehrsgesetz beruhenden Rechtsvorschriften bedürfen danach nicht der Zustimmung des Bundesrates; stattdessen sind vor ihrem Erlass die zuständigen obersten Landesbehörden zu hören. Um eine solche Rechtsverordnung handelt es sich hier.
b) Die Regelungen der Verordnung sind durch den in § 6 Abs. 3, 2. Variante StVG verwendeten Begriff der „Ausnahme“ gedeckt. Art und Anzahl der in der Verordnung enthaltenen ausgestaltenden Bestimmungen stehen dem nicht entgegen. Der Einwand, an einer großen Zahl von „Nebenbestimmungen“ zeige sich, dass es sich nicht mehr um eine Ausnahme, sondern um ein Sonderregime handle, greift nicht durch. Eine Grenze für die Zulässigkeit nebenbestimmungsäquivalenter Bestimmungen ist allerdings erreicht, wenn eine Verordnung über Bestimmungen hinaus, die eine Ausnahme ausgestalten, selbstständige, hiervon unabhängige Regelungen enthält. Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
c) Es handelt sich auch um eine Rechtsverordnung über „allgemeine“ Ausnahmen. Es werden für eine unbekannte Vielzahl von Fällen Regelungen getroffen, die an einen unbestimmten Personenkreis gerichtet sind. 3. Die Verordnung verstößt nicht gegen das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG. Sie nennt die Ermächtigungen, auf die der Verordnungsgeber sich stützen wollte und auf die die erlassenen Bestimmungen sich stützen lassen. Auf die Frage, ob einzelne der herangezogenen Vorschriften ungeeignet sind, irgendeine der Verordnungsbestimmungen zu tragen, kommt es nicht an. Ein Zitierungsüberschuss in diesem Sinne wäre, jedenfalls wenn er wie hier allenfalls in geringem Umfang zu verzeichnen ist, unschädlich.
4. Die Verordnung verstößt schließlich nicht gegen den Parlamentsvorbehalt. Zwar müssen in grundlegenden normativen Bereichen, insbesondere im Bereich der Grundrechtsausübung, die wesentlichen Entscheidungen vom Gesetzgeber getroffen werden. Der Parlamentsvorbehalt verlangt jedoch nicht, dass der Gesetzgeber selbst über die Abmessungen der am Straßenverkehr teilnehmenden Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen entscheidet. In Anbetracht des technischen Fortschritts und damit einhergehender schneller Veränderungen von Gefahrenlagen und Möglichkeiten ihrer Vermeidung ist die Einschätzung des Gesetzgebers nachvollziehbar, dass der Verordnungsgeber eher in der Lage ist, die Anforderungen auf dem aktuellen Stand zu halten und damit allen berührten grundrechtlichen Interessen Rechnung zu tragen. Steht danach der Parlamentsvorbehalt selbst einer dauerhaften Änderung der zulässigen Längenmaße durch den Verordnungsgeber nicht entgegen, kann ein Verstoß auch nicht darin liegen, dass zunächst nur versuchsweise eine befristete Regelung getroffen wurde.
(Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung vom 28. Mai 2014)