Nachfolgend ein Beitrag vom 11.7.2018 von Krenberger, jurisPR-VerkR 14/2018 Anm. 6
Orientierungssätze zur Anmerkung
1. Leichte Fahrlässigkeit im Sinne eines Augenblicksversagens setzt voraus, dass die Ordnungswidrigkeit in einer „besonders schwierigen, insbesondere überraschend eingetretenen Verkehrslage“ begangen wurde (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 14.03.2014 – IV-1 RBs 183/13 – DAR 2015, 213).
2. Bereits begrifflich ist eine länger gesperrte Autobahnauffahrt allerdings das Gegenteil einer „überraschend eingetretenen Verkehrslage“. Von einem Kraftfahrzeugführer, der in den durch Wechsellichtzeichen geschützten Bereich einer belebten innerstädtischen Kreuzung mit mehreren Fahrspuren einfährt, muss eine gesteigerte Aufmerksamkeit verlangt werden; missachtet er das Rotlicht dennoch, so kommt in aller Regel die Annahme nur leichter Fahrlässigkeit im Sinne eines so genannten Augenblicksversagens nicht in Betracht.
A. Problemstellung
Das KG hatte als Rechtsbeschwerdegericht darüber zu entscheiden, ob das Tatgericht zu Recht davon abgesehen hat, gegen den Betroffenen ein Fahrverbot anzuordnen.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Gegen den Betroffenen wurde wegen eines fahrlässig begangenen Rotlichtverstoßes eine Geldbuße von 250 Euro festgesetzt und ein Fahrverbot von einem Monat mit Schonfrist angeordnet. Auf seinen auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Einspruch hatte ihn das AG Tiergarten zu einer Geldbuße von 250 Euro ohne Fahrverbot verurteilt. Die Urteilsgründe weisen aus, dass der Betroffene, gegen den im Jahr 2016 zwei Bußgeldbescheide u.a. wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen rechtskräftig erlassen worden sind, an einer Kreuzung das rote Lichtzeichen missachtete und die Haltlinie passierte, als es bereits 1,1 Sekunden leuchtete. Im Hinblick auf die Voreintragungen hatte das Amtsgericht die Regelgeldbuße erhöht. Von der Verhängung eines Fahrverbots hatte die Tatrichterin abgesehen, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Betroffene seiner vom Verteidiger vorgetragenen Einlassung gemäß ortsunkundig und durch eine „hinter der Kreuzung liegende Sperrung der Einfahrt zur BAB 100“, in die er habe einfahren wollen, im Sinne eines Augenblicksversagens „irritiert gewesen sei“.
Das KG hat auf die Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft das Urteil des Amtsgerichts im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
Die Urteilsgründe lassen keinen Sachverhalt erkennen, der es dem Amtsgericht erlaube, vom indizierten Regelfahrverbot abzusehen. Die angefochtene Entscheidung verkenne die Bedeutung des bundeseinheitlich geltenden Bußgeldkataloges, die in ihm zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Vorbewertung der dort normierten Regelfälle und die ihn prägende Regelbeispieltechnik. Der Tatrichter sei in diesen Fällen – nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung – gehalten, die Maßnahme anzuordnen. Er könne hiervon nur in ganz besonderen Ausnahmefällen absehen. Die schriftlichen Urteilsgründe müssten konkrete Feststellungen enthalten, die die Annahme eines besonderen Ausnahmefalles nachvollziehbar erscheinen lassen. Eine solche Ausnahmesituation zeigten die Urteilsgründe nicht auf. Es könne offenbleiben, ob das Amtsgericht die verkehrsrechtlichen Vorbelastungen in seine Überlegungen einbeziehen musste. Jedenfalls zeigten die Urteilsfeststellungen keine Verkehrssituation auf, welche die Unaufmerksamkeit des Betroffenen und seine Sorgfaltswidrigkeit in einem signifikant milderen Licht erscheinen lassen könnten. Selbst wenn der Betroffene zunächst tatsächlich vorgehabt hätte, auf die Autobahn aufzufahren, ließe eine durch die Sperrung bewirkte Irritation den Rotlichtverstoß nicht als Augenblicksversagen erscheinen.
Bereits begrifflich sei eine länger gesperrte Autobahnauffahrt allerdings das Gegenteil einer „überraschend eingetretenen Verkehrslage“. Der Betroffene näherte sich der Sperrung auf einer breiten, übersichtlichen Hauptverkehrsstraße. Von einer „überraschenden“ Verkehrssituation möge ggf. bei plötzlichen Ereignissen auszugehen sein, die noch über die ohnehin außergewöhnliche Dynamik des Straßenverkehrs hinausgehen, nicht aber bei einer statischen und von Weitem sichtbaren Straßensperrung. Zudem müsse der Kraftfahrzeugführer, der in den durch Wechsellichtzeichen geschützten Bereich einer belebten innerstädtischen Kreuzung mit mehreren Fahrspuren einfahre, eine gesteigerte Aufmerksamkeit an den Tag legen; missachte er das Rotlicht dennoch, so komme in aller Regel die Annahme nur leichter Fahrlässigkeit im Sinne eines so genannten Augenblicksversagens nicht in Betracht.
C. Kontext der Entscheidung
Das Augenblicksversagen war zuletzt häufiger Gegenstand der obergerichtlichen Rechtsprechung und dies zumeist restriktiv. Sei es aus Gründen des Lärmschutzes (OLG Bamberg, Beschl. v. 21.11.2006 – 3 Ss OWi 1516/06), bei vorgelagerten Verstößen (OLG Bamberg, Beschl. v. 04.01.2016 – 3 Ss OWi 1490/15) oder fehlerhafter Interpretation von Wechsellichtzeichen (OLG Bamberg, Beschl. v. 22.12.2015 – 3 Ss OWi 1326/15; OLG Bamberg, Beschl. v. 10.08.2015 – 3 Ss OWi 900/15).
Das KG bestätigt diesen restriktiven Ansatz und das zu Recht. Die Vorbewertung von Regelfahrverboten (BGH, Beschl. v. 28.11.1991 – 4 StR 366/91 – BGHSt 38, 125; BGH, Beschl. v. 17.03.1992 – 4 StR 367/91 – BGHSt 38, 231, 235) verpflichtet den Tatrichter zu genauer Begründung für Wegfall oder Absehen vom Fahrverbot (BayObLG, Beschl. v. 23.08.1994 – 2 ObOWi 376/94 – NZV 1994, 487; OLG Naumburg, Beschl. v. 07.12.1994 – 1 Ss (B) 131/94 – NZV 1995, 161). Ein weithin sichtbares Hindernis kann deshalb kaum dafür herhalten, ein Augenblicksversagen zu begründen (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 14.03.2014 – IV-1 RBs 183/13, 1 RBs 183/13 – DAR 2015, 213). Zudem geschieht ein trotz der gebotenen Aufmerksamkeit begangener Rotlichtverstoß nicht leicht fahrlässig, sodass – ohne eingehende Begründung – umso weniger von einem Augenblicksversagen gesprochen werden kann (vgl. BayObLG, Beschl. v. 27.06.2002 – 1 ObOWi 244/02 – VRS 103, 390; BayObLG, Beschl. v. 30.11.1998 – 2 ObOWi 625/98 – BayObLGSt 1998, 194).
D. Auswirkungen für die Praxis
Zusätzlich interessant ist eine hier nicht tragende Erwägung des KG: Bei wie hier vorhandenen Voreintragungen dürfte es im Hinblick auf § 4 Abs. 4 BKatV hochproblematisch sein, von einem Fahrverbot abzusehen, da es gerade eines Denkzettels bedarf. Geht es hingegen um den echten Wegfall des Fahrverbots, können selbst Voreintragungen keine Rolle spielen, da die Entscheidung über die Nichtanordnung des Fahrverbots dann nicht im Ermessen des Tatrichters steht.
Des Weiteren sollte der Verteidiger die negative Wechselwirkung zwischen Rechtsfolgenbeschränkung und Berufen auf ein Augenblicksversagen im Auge behalten (OLG Bamberg, Beschl. v. 30.10.2017 – 3 Ss OWi 1206/17 – ZfSch 2018, 114).